Hochstapeln: Ein Handlungsraum für transdisziplinäre Gestaltung und Forschung?
Marion Digel & Dustin Jessen
Das Phänomen des ‚Hochstapelns‘ ging um! An mehreren ‚Work-Ends‘ wurde im Studio Inszenierter Raum Hochstapeln und hoch Stapeln als gestalterische Handlungsoption erprobt, erforscht und entdeckt. Die Lehrenden Marion Digel, Tanja Godlewsky, Dustin Jessen, Bruno Klimek und Christian Schreckenberger provozierten zum Hochstapeln und wurden als Hochstapler*innen entlarvt … ach, und war da nicht auch noch der berühmte Kunstexperte Prof. Dr. Hase?
Es ist ein grundlegendes Prinzip der Optik, dass die Dinge aus nächster Nähe betrachtet vor dem menschlichen Auge unscharf erscheinen und etwas Abstand für Schärfe sorgt. Nachdem nun drei Jahre vergangen sind, seit das Phänomen des ‚Hochstapelns‘ im Studio Inszenierter Raum um sich gegriffen hat, scheint aus dem damals von vielen als unscharf wahrgenommenen Wesen eine markante Gestalt ins Licht zu treten und es lohnt sich, seine Wirkung innerhalb des nun auslaufenden Graduate-Programms Heterotopia zu reflektieren. In Retrospektive stellt sich die Frage, inwiefern sich das Hochstapeln als Mittel zur transdisziplinären Forschung und Praxis eignet. Wird durch Hochstapeln eine Gegenplatzierung, ein anderer Wirklichkeitsraum im Foucault‘schen Sinne geschaffen? Eröffnet Hochstapelei somit als gestalterische Praxis auch einen neuen Denkraum und ein Experimentierfeld? Lassen sich durch Hochstapeln Fragen wie „Was ist hier die Wirklichkeit?“ und „Welche Rolle spielen wir darin?“ neu stellen, und können wir somit zu neuen Ideen und anderen Erkenntnissen gelangen?
Die Lehrveranstaltung war mit Lehrenden aus Bereichen wie Design, Schauspiel/Regie und Bildhauerei sehr divers besetzt. Heterogene Auffassungen von gestalterischer Praxis, Lehre und Forschung brachten schon in der Vorbereitung gewisse Herausforderungen mit sich. Aus den unterschiedlichsten Perspektiven bereiteten die Lehrenden Aufgaben vor, die sich aus dem Titel Menschen und Dinge, die hochstapeln… speisten und injizierten ihre individuellen Vorstellungen zum Hochstapeln in das Programm. Dabei gingen sie mit ebenso offenen Erwartungen in die Veranstaltung wie die Studierenden. Die programmierte Uneinheitlichkeit – nicht zu verwechseln mit Uneinigkeit – sollte zu einer vielseitigen Auseinandersetzung mit dem Thema Hochstapeln und zu einigen Überraschungen führen. Der Workshop machte an vielen Stellen deutlich, wie schnell unsere Vorstellungen davon, was wirklich oder wahr ist, in Frage gestellt werden können. Dies war besonders prägnant, da der Workshop ja noch vor der Prägung des Begriffs ‚Fake News‘ stattfand.
Bereits im Vorfeld zum Workshop hatte Bruno Klimek eine Literaturliste an alle Teilnehmenden verschickt, mit der Bitte, man möge zu einer ausgewählten Publikation einen Vortrag vorbereiten und so die Studierenden herausgefordert, denn die Liste war frei erfunden. So wurde dann auch vereinzelt rückgemeldet, dass die Bibliothek der Universität Duisburg-Essen keines der besagten Exemplare führe und man daher die Aufgabe wahrscheinlich nicht erledigen könne.
Der Workshop bestand aus zwei Teilen. Marion Digel und Tanja Godlewsky servierten am ersten ‚Work-End‘ zunächst den Aufschlag. Tanja Godlewsky präsentierte potenzielle Hochstaplerinnen und Hochstapler aus dem Musik-Business, während Marion Digel aus Rafael Horzons Das Weisse Buch (2010) las. Es wäre zu einfach, Horzons – an Absurdität kaum zu überbietendes – unternehmerisches Treiben der Performance-Kunst zuzuordnen und so lehnt er Zuschreibungen dieser Art konsequent ab. Ob es sich bei seinen mit großer Euphorie beschriebenen Taten um eine rein autobiografische Erzählung handelt oder ob sich bei all dem Einfallsreichtum die ein oder andere Fiktion in Das Weisse Buch verirrt hat, das zu entscheiden bleibt den Lesenden überlassen. Gerade, wenn man meint, Horzon entlarvt zu haben, trifft man nach etwas Recherche auf Nachweise, die belegen, dass seine Unternehmungen in Berlin tatsächlich stattgefunden haben und zum Teil noch heute von ihm betrieben werden. Zeitweise fühlt man sich an Thomas Manns Figur des Felix Krull erinnert. Den Vorwurf der Hochstapelei wollte Horzon jedoch in keinem Fall laut werden lassen und folgte einige Zeit später bereitwillig Marion Digels Einladung, um, wie er schrieb, das schiefe Bild, das anscheinend von ihm vermittelt wurde, wieder gerade zu rücken. Im Anhang seiner Antwort befand sich ein Foto des Horzon Tower, über dessen geplante Errichtung an Stelle des Stadtschlosses Berlin er berichten wollte. Das Architekturmodell bestand aus einem mit größter Sorgfalt hochgestapelten Turm aus MDF-Platten. Nachdem Tanja Godlewskys Musik-Promis und Marion Digels Lesung erste Impulse zum Hochstapeln gegeben hatten, trugen die Studierenden ihre Kurzvorträge zu Bruno Klimeks frei erfundenen Literaturempfehlungen vor. Zur Vorbereitung auf Ad-hoc-Hochstapeleien moderierte der Experte für Körperarbeit, Oliver Spröll, ein Bewegungs- und Ausdrucks-Warm-Up mit allen Beteiligten. Danach entwickelten die Studierenden in Teams performative Inszenierungen und boten Rollenspiele mit viel Humor und Ideenreichtum dar. So wurde an diesem Wochenende unter anderem aufgrund des Fehlens der männlichen Kollegen die Folkwang Hochschule der Künstlerinnen gegründet, ein Studierender hielt als Professor Dr. Hase einen Vortrag über die Geschichte und die Philosophie des Hochstapelns und eine Bloggerin schuf ein YouTube-Tutorial zur Selbstironie.
Am zweiten ‚Work-End‘ sollte es gerade so weitergehen. Bereits in der Kauderwelsch-Begrüßung durch Bruno Klimek, der alle Teilnehmenden herzlich willkommen hieß und sie in eine Gesprächsphantasie verwickelte, zeigte sich, dass für die Zeit der Veranstaltung – symptomatisch für Heterotopien – ganz eigene Regeln gelten sollten. Das zweite Obergeschoss des SANAA-Gebäudes am Campus Welterbe Zollverein bot für dieses experimentelle Unterfangen die benötigte Projektionsfläche und einen ‚geschützten‘ Raum. Bruno Klimek (er)öffnete mit seinen schauspielerischen Warm-Ups und Improvisationen diesen Raum. So war der weitere Verlauf des Workshops von dem Mut, sich wiederholt – teils ungefragt – performativ zu erproben, aber auch von Humor und einer konstanten Ironie geprägt, was die ein oder andere komische Situation erzeugen sollte.
Im Verlauf des Wochenendes wurden zahlreiche Lügengeschichten durch hochstapelnde Studierende und Lehrende vorgetragen. Die Studierenden entwarfen Masken, mit denen sie, scheinbar inkognito, ungehemmter in eine selbstgewählte Rolle schlüpfen konnten. Der Charakter und Ausdruck der Masken diente dazu, das körperliche Verhalten in dieser Rolle zu verstärken. Nach einem gestapelten Mittagessen überraschte Christian Schreckenberger mit einer Vorlesung zu Mauerwerksverbänden, die, wenn man einmal die verschiedenen Prinzipien des Stapelns von Steinen – als sogenannte ‚Läufer‘, ‚Binder‘ oder ‚Steher‘ – verinnerlicht hatte, zum ‚Röntgenblick‘ durch jedes Mauerwerk befähigte. Eine Teilnehmerin bedauerte lediglich, dass sie ihre neu erlangte Fähigkeit nicht auf die Styroporverpackungen zeitgenössischer Architektur anwenden können würde. Zu einer architektonischen Anwendung der Prinzipien des Stapelns kam es bei der Entwurfsaufgabe Mikrotopia, bei der die Studierenden auf konfektionierten Styroporblöcken von 15 x 15 cm Grundfläche Nudeln, Nägel, Plastikbesteck oder Zigarettenfilter zu mikroskopischen Utopien stapelten. Weitere Kurzvorträge, zum Beispiel über den berühmten Hochstapler Victor Lustig, der als ‚der Mann, der den Eiffelturm verkaufte‘ in die Geschichte einging, oder über die vielfältigen Stapelprinzipien von Stühlen, lieferten immer wieder neue An- und Aufregungen.
Man könnte in den bisherigen Ausführungen eine gewisse Zusammenhangslosigkeit und Beliebigkeit sehen, aber dann tut man den Ereignissen unrecht. Der Workshop Hochstapeln wurde zum praktischen Experiment, zu einer Form der angewandten Forschung mit dem Ziel, herauszufinden, wie Heterotopia von einer Utopie zu einer realen Werkstatt transdisziplinärer Gestaltung werden kann. Im Laufe der ‚Heterotopia- Jahre‘ waren die stets wiederkehrenden, dringlichen Fragen:
„Wie können scheinbar unüberwindbare Unterschiede zwischen disziplinären Kulturen bewältigt werden? Wie entsteht Verständnis gegenüber dem Anderen vor dem Hintergrund des Eigenen? Wie kann eine Symbiose zwischen gestalterischem Handeln und wissenschaftlichem Forschen erreicht werden? Wie können sich individuelles künstlerisches Schaffen und gestalterische Teamprozesse verbinden und gegenseitig ergänzen? Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Erkenntnisgewinnung durch eine gestalterische Praxis sowie durch klassische wissenschaftliche Prozesse und Methoden der Beobachtung, Beschreibung und Analyse? Welche Rolle spielen das Experiment, sowie performative oder partizipative gestalterische Prozesse für die Erkenntnis- bzw. Wissensgenerierung? Was sind die Grundlagen des komplexen Feldes der transdisziplinären Gestaltung? Wie kann eine strukturelle und didaktische Grundlage für Transdisziplinarität geschaffen werden? Und wie wird diese dann durch transdisziplinäre Projekte mit Leben gefüllt?” (Digel/Wachendorff 2016: 23-24)
Der Workshop Hochstapeln kann als Versuch zur Bearbeitung dieser Fragen betrachtet werden. Die intensiven, sehr unterschiedlichen Praktiken des Hochstapelns haben einen großen Teil der oben genannten Fragestellungen berührt und zum Teil ad absurdum geführt. Studierende und Lehrende haben sich zeitweise gleichermaßen in der Unsicherheit unbekannter und unkontrollierter Prozesse bewegt. Da sich alle auf einer Terra incognita und in einem Improvisationsraum befanden, wurden die Distanzen zwischen Disziplinen und Hierarchien zumindest temporär aufgehoben. Der Workshop Hochstapeln bediente sich der gesamten Werkzeug- und Trickkiste der gestalterischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und performativen Mittel, die die teilnehmenden Lehrenden und Studierenden zum Experiment mitgebracht hatten. Diese standen dann allen Teilnehmenden für die Zukunft als Werkzeuge zur individuellen Entwicklung in Heterotopia zur Verfügung. Ob ‚Hochstapeln‘ jedoch in diesem Sinne als Methode gewertet werden kann, ist zu bezweifeln. So sind zwar die erprobten Hochstapel- Experimente zumindest in der Theorie wiederholbar, doch hängt es immer von der Spielfreude und der Bereitschaft der Einzelnen, sich auf das Experiment einzulassen, ab, welche Ergebnisse hervorgebracht werden.
Ganz sicher bot das Hochstapeln Möglichkeiten zum Loslösen von alltäglichen Konventionen und individuellen Hemmnissen und bietet sich durch die geistige und körperliche Lockerung als Einstiegsmittel für jegliche gestalterische Arbeit, insbesondere im Team, an. Denn das Hochstapeln, mit dem ein Mensch im landläufigen Sinne ein überzeugendes Scheinbild von sich selbst schaffen will, hat bei diesem Workshop Gegenteiliges bewirkt und authentische Bilder der Studierenden und Lehrenden, mit ihren individuellen Talenten, Fähigkeiten und Kenntnissen, zu Tage gefördert. Am Ende entstand eine heterogene Gruppe, verbunden durch gemeinsame Erlebnisse. Dies hatte Bestand bis zu dem Punkt, an dem die Lehrenden den Workshop benoten mussten. Auch dieser Punkt wurde gemeinsam diskutiert und verhandelt, warf jedoch die Frage auf, inwieweit die Institution Hochschule mit ihren bürokratischen Strukturen Heterotopien abseits ihrer selbst überhaupt zulässt. Trotz der mehrheitlich positiven Stimmen zu diesem Workshop gab es auch Kritik einzelner Studierender, die die Momente der Selbstinszenierung und -offenbarung im Rollenspiel als problematisch und unseriös empfanden. Dennoch, so viel hat der Workshop Hochstapeln gezeigt, sollte gerade die Kunsthochschule (wenn nicht dort, wo sonst?), Raum für Heterotopien bieten. Sie wird sich damit immer wieder der Kritik aussetzen und zum Diskurs anregen, denn die Sinnhaftigkeit von Experimenten wie dem Workshop Hochstapeln ist von außen schwer zu beurteilen und unterliegt vor allem der Bewertung durch die Teilnehmenden, die diese häufig selbst erst retrospektiv wirklich erkennen.
Bibliographie:
Digel, Marion/Wachendorff, Irmi (2016): Transdiziplinäre Gestaltung. In: Digel, Marion/Shapiro, Alan N./Wachendorff, Irmi (Hgg.): Transdisziplinäre Gestaltung: Essays der Folkwang Universität der Künste, Wien: Passagen Verlag, S. 23–24
Horzon, Rafael (2010): Das Weisse Buch, Berlin: Suhrkamp Verlag.