Orte des Gestaltens: Auf der Suche nach der Profession
Dustin Jessen, 2019
Während eine Universität der Künste auf der einen Seite den geschützten Raum bieten muss, in dem das künstlerische Experiment und das spektakuläre Scheitern stattfinden dürfen, so soll auch erlaubt sein, gelegentlich von den gestalterischen Versuchen und Irrtümern aufzuschauen, um ein Auge auf die Zeit nach dem Studium zu werfen. Doch wie ‚berufsvorbereitend‘ kann und soll ein Studium sein wie das Graduate-Programm Heterotopia, das ein individuelles künstlerisches Entwicklungsvorhaben und somit die Erkundung und Entwicklung der individuellen gestalterischen Praxis in das Zentrum der Ausbildung gestellt hat? Was hilft zur Orientierung, wenn keine Pfade zum eigenen Beruf existieren, wenn die eigene Berufung erst noch gesucht, erforscht und fortwährend weiterentwickelt werden muss? Welche Formate können helfen, damit die große programmatische Freiheit eines Studiums nicht zu Beliebigkeit und Perspektivlosigkeit führt, sondern Perspektiven eröffnet und Potenziale entfacht? „Now that we can do anything, what do we want to do?“ (Mau et al. 2004: 15) ist die ambivalente Frage, der sich alle Studierenden im Heterotopia-Programm stellen mussten.
Im Sommer 2016 machte sich deshalb eine Gruppe von Studierenden und Lehrenden auf, um Gestaltungsberufe und -berufungen zu kartografieren und das Wandern auf unbekanntem gestalterischen Terrain wegweisend zu unterstützen. Es sollten möglichst viele Orte und Menschen, die in unterschiedlichsten gestalterischen Kontexten arbeiten, besucht werden, um vielfältige Formen der Professionalisierung aufzuzeigen. Woche für Woche eine Exkursion zu unternehmen, gewissermaßen von einer Heterotopie in die nächste zu reisen, stellte für alle Teilnehmenden eine gleichermaßen organisatorische wie intellektuelle Herausforderung dar.
Die Auswahl der besuchten Orte war dialogisch mit den Studierenden des Studio 01 – Inszenierter Raum entwickelt worden, die im Vorfeld ihre persönlichen Wunschziele geäußert hatten. Die örtliche Eingrenzung der Ziele auf Nordrhein-Westfalen geschah aus rein pragmatischen Gründen, da die Studierenden innerhalb des Bundeslandes mit ihren Semestertickets kostenlos reisen konnten. Es sollte bei den Ausflügen stets ermöglicht werden, einen Blick hinter die Kulissen der Werk- und Wirkstätten von Gestalter*innen, Künstler*innen, Schauspieler*innen, Kurator*innen, Autor*innen oder Galerist*innen zu werfen. Die dreizehn besuchten Orte hatten dabei nicht den Anspruch, ein vollständiges Bild aller gestalterischen Professionen zu liefern, sondern sollten als mehr oder weniger willkürliche Auswahl einzelner gestalterischer – und möglicherweise beruflicher – Perspektiven verstanden werden. Nicht selten fiel das Resümee nach einem Besuch so aus, dass man vor allem erfahren hatte, wohin man später definitiv nicht wolle. Auch dies ist eine Erfahrung, die bei der Herausbildung der eigenen gestalterischen Position sehr wertvoll sein kann.
Gleich beim ersten Termin eröffnete sich mit dem Besuch des Winterquartiers des Circus Roncalli ein Ort, der im wahrsten Sinne einzigartig ist und „außerhalb aller Orte“ (Foucault 1993: 39) zu existieren scheint. Auf dem Gelände in Köln-Mülheim befinden sich Werkstätten, die operative Zentrale des Unternehmens, Trainingshallen für Artisten, zahlreiche Lagerhallen sowie die Villa von Bernhard Paul, dem Gründer, Clown, Zirkusdirektor und leidenschaftlichen Sammler. Herr Paul sammelt seit Jahrzehnten alles rund um das Thema Zirkus und darüber hinaus. So befinden sich unter anderem hunderte antike Zirkuswagen, Instrumente von den Beatles, den Rolling Stones und Eric Clapton sowie mehrere vollständige Ausstattungen alter Wiener Caféhäuser in seinem Besitz, der sich noch auf weitere mehrere tausend Quadratmeter große Gelände im Kölner Stadtraum verteilt. Mit wieviel Hingabe die alten Wagen, Tribünen, Zelte und Requisiten in den Werkstätten restauriert werden, um dann in den Shows, Cafés, Restaurants und Märkten von Roncalli zum Einsatz zu kommen, war nur eine Erkenntnis unter vielen, die dieser heterotopische Ort offenbaren sollte. Da das Gelände für gewöhnlich nicht öffentlich zugänglich ist, war es ein großes Privileg, dass sich ein Zirkus-Mitarbeiter gut eineinhalb Stunden Zeit für die Führung nahm, wenngleich man noch stundenlang dort hätte verweilen können.
Nach einem Besuch des Kunst(h)aus NRW Kornelimünster in Aachen zeigte sich bei der Besichtigung des Leuchtenherstellers ERCO in Lüdenscheid erneut ein Ort, der mit der Zeit seine ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten hervorgebracht hat. Neben der Fertigung, in der die Roboter die Namen ihrer verantwortlichen Techniker tragen, und der Präzision, mit der man sich seit Jahrzehnten Beleuchtungslösungen widmet, beeindruckte vor allem die Umsetzungstiefe des von Otl Aicher ab Mitte der 1970er Jahre entwickelten visuellen Erscheinungsbildes. „ERCO dürfte vielleicht die einzige Firma sein, bei der Blumen im Erscheinungsbild festgelegt sind“ (Aicher et al. 1990: 23–25) und bei dem die Anzahl persönlicher Gegenstände auf den Schreibtischen der Mitarbeiter* innen auf drei begrenzt ist. Maßnahmen wie diese polarisierten die Heterotopia-Studierenden, die sich größtenteils nicht vorstellen konnten, wie Folkwang-Alumnus Holm Giessler als Designer* innen bei ERCO zu arbeiten. Die gewonnenen Eindrücke von ERCO mögen zwischen Strenge und Stringenz changieren, aber das „Licht“ (ebenda: 10–11) von ERCO sollte uns noch an vielen weiteren Orten beeindrucken, wie beispielsweise in der Galerie Konrad Fischer in Düsseldorf, der DASA Arbeitsweltausstellung in Dortmund oder der Galerie M in Bochum.
In Bochum öffnete uns der Künstler Matthias Schamp bereitwillig die Tür zu seinem Wohnatelier und wir diskutierten bei Instant- Kaffee unter anderem seine „künstlerische Geschäftsidee“, Bierdeckel als Kunstwerke zum doppelten Preis der auf ihnen markierten Getränke zu verkaufen. Zwar verkaufte Herr Schamp weder einen seiner Bierdeckel noch ein Bild aus Pommesgabeln an uns, aber er begeisterte einige Studierende für die Teilnahme an der Aktion Hegel-Hooliganismus. So skandierten Christian Berens und Moritz Kotzerke in der kommenden Woche lieber „Geist! Geist! Geist!“ vor der Ruhr Universität Bochum als zu Hause bei Uta Brandes und Michael Erhoff (be design) in Köln bei Kaffee und Kuchen geistreich über Kunst und Design zu philosophieren.
Mike Meiré begeisterte in seiner Ausstellung am Kölner Ebertplatz mit Augmented Reality und zeigte uns mit seiner Factory nicht bloß den Ort einer der erfolgreichsten Agenturen des Landes, sondern auch erneut einen heterotopischen Raum, dessen Wandelbarkeit in Analogie zu seinem Besitzer steht. Agentur, Atelier oder Ausstellungsort wären ebenso unzureichende Zuschreibungen wie Designer, Künstler oder Kurator. Wie man einen Raum auf ganz andere Weise verwandeln kann, machte der Besuch des Gasthof Worringer Platz in Düsseldorf deutlich. Das Kunstprojekt von Oliver Gather und Andrea Knobloch findet in öffentlichen Räumen statt und macht sich dessen ungenutzte Ressourcen zu eigen. So trafen wir uns im Eiscafé Stefan, wo Oliver Gather kurzerhand seinen Laptop an den laufenden Fernseher anschloss und, während wir uns Eiscafé und Waffeln bestellten, mit der Präsentation begann. Professioneller geht es nicht.
Bibliographie:
Foucault, Michel (1993 [1967]): Andere Räume. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam, S. 34–46.
Aicher, Otl/ERCO Leuchten GmbH (1990): ERCO- Lichtfabrik: Vom schönen Schein der Lampe zum besseren Schein des Lichtes, Berlin: Ernst & Sohn.
Mau, Bruce/The Institute without Boundaries (2004): Massive Change, London: Phaidon Press Ltd.